Helena Citronová: Die Sicht des thailändischen Komponisten Somtow Sucharitkul auf die Weltgeschichte

Opera Siam’s gewagteste Produktion erinnert den Holocaust aus Anlass des 75. Jahrestags der Befreiung der NS-Konzentrationslager – Eine unvergessene Geschichte von verbotener Liebe in Auschwitz. …

Bild(von Dieter Topp). Thailands Opera Siam folgte am 16. Januar in Bangkok der Uraufführung eines außergewöhnlichen neuen Werks des Thai-Opernkomponisten Somtow Sucharitkul: Helena Citronová, eine große Oper, die vollständig an einem der dunkelsten Orte der Menschheit spielt, dem berüchtigtsten der Nazi-Todeslager während des Zweiten Weltkriegs, “Ausschwitz”.

Schon die Ouvertüre, ein gewaltiges Stück Programmmusik, lässt den Besucher die einfahrenden Züge in das Todeslager im Dunkeln nachvollziehen. Die wenigen Scheinwerfer folgen aufsteigendem Rauch.

Im Frühjahr 1942, als die slowakische Jüdin Helena Citronová und ihre Schwester Rozinka gezwungen wurden, in der Abteilung “Kanada” unter anderen Frauen zu arbeiten, wurde sie veranlasst, ein deutsches Geburtstagsständchen für den österreichischen SS-Wächters Franz Wunsch zum Besten zu geben. Dies war der Moment, in dem sich der SS-Scherge fasziniert und gebannt fühlte. Danach wollte er sie bei jeder möglichen Gelegenheit sehen, der Auftakt zur unvergesslichen Geschichte einer verbotenen Liebe in Auschwitz.

Helena Citronová, eine reale Person, wurde zur Inspiration für diese Oper, eine von Millionen, deren Leben durch die unerbittliche Maschinerie des Dritten Reiches auf den Kopf gestellt, umgewandelt und beendet wurde. Einige der ungewöhnlichsten Ereignisse in dieser Oper sind tatsächlich passiert, andere frei erfunden, um den Erfordernissen der Oper gerecht zu werden. Cassandra Black genügt mit ihrem gewaltigen Sopran voll der Rolle der selbstbewussten Helena, die nie einen Moment der Unentschlossenheit zeigt und sich behauptet gegen den starken Bariton Falko Hönisch als Franz Wunsch.

Somtow Sucharitkul richtete sich selber den Text für die Vertonung ein. Der Name S.P. Somtow steht besonders in den USA in prominentem Ranking in Sachen Science-Fiction. Er reduzierte den Text in Form fortlaufender Erzählung dabei auf einen operntauglichen Umfang. Im zweiten Teil wich er stark von der historischen Vorlage ab, wobei die Geschichte von der Befreiung des KZs durch die Alliierten nur kurz angedeutet wird. Die Exposition des komplexen Beziehungsgefüges der beiden Protagonisten wird in einem späteren, fiktiven Treffen ihrer Gedanken und Wünsche dann immer lyrischer. Und so spürt man, wie es der Komponist genießt, endlich die Liebe der beiden musikalisch zu gestalten. Die Gefahr, bereits im KZ Geschehen auf eine liebliche Ebene abzurutschen, ist vorüber. Das historische Ende während der NS-Prozesse bleibt vollends außen vor, ebenfalls, dass Helenas Aussage zu Gunsten Wunschs ihm den Freispruch bringt.

Stattdessen lässt Somtow geschickter Weise den Fortgang jedes einzelnen offen, nachdem klar ist, dass die Liebe immer eine platonische war und in jedem der Beiden auf die eigene, persönliche Weise ihre Empfindung zum Ausdruck bringt. Damit beendet Somtow die Geschichte in einem aufwühlenden musikalischen Finale. Der Besucher kann die Augen schließen und spürt die doppelte Tragik.

Somtow: Welcher Komponist hat mich am meisten in ” Helena Citronová ” beeinflusst? Es ist leicht, meine Wurzeln in der deutschen Tradition zu sehen. Aber ich würde sagen, der Komponist, der diese Oper am meisten beeinflusst hat, war jemand, der den Fans klassischer Musik nicht so namentlich bekannt ist … doch jeder kennt seine Musik. Der große Stop-Motion-Animator Ray Harryhausen beschrieb ihn mir als “einen neugierigen kleinen Juden”. Seine Musik durchdringt das Bewusstsein der Menschen meiner Generation. Obwohl er nur eine einzige Oper schrieb, die ich kenne, ist seine Musik opernhafter als die der meisten Opernkomponisten seiner Zeit. In seiner Arbeit trägt die Musik die ganze Last des Dramas, die Psychologie der Charaktere und das Aufsteigen ihrer kaum eingedämmten Emotionen … aber das sind keine Opern: es sind Filme. Ich beziehe mich natürlich auf Bernard Herrmann. (Er schrieb die meisten Hitchcock-Filmmusiken, u.a. die berühmte Mordszene in “Psycho”.)

Helena Citrónová ist eine Oper. Das heißt, es ist eine Aufführung, bei der wir die verrückte Vorstellung akzeptieren, dass Menschen auf einer Bühne herumlaufen und singen, während sie von den aufsteigenden Klängen eines Symphonieorchesters umgeben sind. Es handelt sich um ein Thema, das schlechthin “operatic” ist – eine verdammte, unmögliche und tragische Liebe. Im Großen und Ganzen folgt es den Konventionen der Oper, ist in Akte unterteilt, nutzt eine Vielzahl von musikalischen Strukturen und hat Arien, Duette und Ensembles. Von allen Kunstformen ist Oper die am wenigsten lebensnahe, aber es gibt Wahrheit in der Oper. In Momenten, die dem Naturalismus am meisten zuwiderlaufen, offenbart die Oper unsere wahre Natur. Helena Citronová ist ein Werk, das Fragen sowohl über unsere wahre Natur als auch über die Natur der Wahrheit stellt.

In gewisser Weise muss eine Person in meiner Oper für sechs Millionen Ermordete sprechen, weil wir zumindest versuchen müssen, diese sechs Millionen zu begreifen, wenn wir etwas aus unserer dunklen Vergangenheit lernen wollen, und um zu begreifen, dass diese Millionen alle individuelle Geschichten sind, alles echte Menschen.

Wir werden nie wissen, was in den Köpfen der beiden realen Menschen vor sich ging. Wir werden nie sicher wissen, ob dies eine transzendente Liebesgeschichte war oder eine Geschichte von Menschen, die alles tun, um zu überleben, um eine zerbrechliche Illusion von Normalität in einer unerträglichen Welt zu schaffen. Ich habe ein Libretto geschrieben, das – selbst gelesen – entlang eines ganzen Spektrums alternativer Bedeutungen interpretiert werden könnte.

Aber Oper ist Musik, kein Libretto, und in der Musik habe ich die Wahrheit gesagt, wie ich sie sehe. Ich glaube, wenn man jemandem die Persönlichkeit wegnimmt, schmälert man seine eigene. Ich glaube, dass Helena eine Person war, die sich weigerte, sich ihre Persönlichkeit wegnehmen zu lassen, egal zu welchem Preis, und dass ihre Weigerung, dies zu tun, auch Franz Wunsch vor dem völligen Abstieg in den Abgrund bewahrt haben könnte. Ich glaube, dass auch in den dunkelsten Ecken des Universums Licht existiert – Licht muss existieren – und es ist unser Gebot, unsere Mitzwa, nach dem Licht zu suchen, sonst hat nichts Sinn. (Somtow Sucharitkul im Gespräch)

In ” Helena Citronová ” steht während der gesamten Oper eine Gefängnisband auf der Bühne. Die Musik, die sie spielen, ist ein Mischmasch populärer Stile der 1940er Jahre mit einem Schuss Klezmer. Ihre Musik kontrastiert oft stark gegenüber der “akademischen” Musik aus dem Orchestergraben. Siam Sinfonietta mit über 60 jungen Thaimusikern, Chor und separatem Bühnenorchester, vollbringen unter der Leitung von von Trisdee na Patalung Erstaunliches. Zu den Darstellern gehören Cassandra Black als Helena, Falko Hönisch als Franz, Stella Grigorian, Damian Whiteley und Nadlada Thamtanakom, allesamt stimmlich ausgezeichnet

Zusammen mit Somtows zehnteiligem “DasJati – Die letzten zehn Leben des Buddha” (Orpheus berichtete), von denen bereits sieben Werke erschienen sind, soll Helena Citrónová Thailand auf eine neue Stufe im internationalen Opernkosmos bringen. Dazu müsste sich Somtow unbedingt eines eigenen Regisseurs annehmen. Es liegt noch viel Potenzial in Musik und Stoff verborgen. Das Werk soll Ende 2020 nach Europa zu reisen. (www.operasiam.com)

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